Reden über die andere Seite
Ihr lebenslustigen Lieblingsleserinnen und Leser,
der Sonnenschein draußen und die sich aus dem Winterschlaf räkelnde Natur schreien einen förmlich an: Leben, beginne! Alles wächst, wird und entfaltet sich.
Auch auf den Friedhöfen, übrigens. Da war ich gestern wieder.

Im Friedwald. Schön da.
Ein junger Mann, nennen wir ihn Anton, musste verabschiedet werden. Mit nicht mal 20 Jahren war sein Leben vorbei, ganz schnell. Zu Hause bei ihm hängt noch die Bucket List an der Wand, und es war nicht genug Zeit, hinter jeden Wunsch einen Haken zu machen.
Wenn die Menschen hören, dass ich als Freie Rednerin nicht nur bei Hochzeiten, sondern auch bei Beisetzungen tätig bin, gibt es immer genau zwei Reaktionen: Die erste ist „Ich könnte das nicht!“ und die zweite „Wie kommt man denn dazu?“.
Tja, wie kommt man dazu?
Ich glaube, dass wir von unseren Aufgaben im Leben auch immer ein bisschen gefunden werden. Bei mir war es der Opi einer Freundin, mehr ein Papa-Ersatz, der gestorben war. Die Freundin war hochschwanger, total traurig, und sagte: „Du musst das für mich machen. Ich kann es nicht ertragen, wenn jemand anderer als du über Opi redet.“
Ihr kennt mich ja: „Nein“ sagen gehört definitiv nicht zu meinen Stärken, und wenn so ein weinender Kugelfisch vor mir steht, noch weniger.
Ich hatte keine Ahnung, worauf ich mich einlasse – nur ein Zeitfenster und ein Vorgespräch beim Bestatter, um mir die wesentlichen Informationen zu besorgen. Schließlich war ich bis zu diesem Zeitpunkt auf bisher vielleicht drei Beerdigungen in meinem ganzen Leben, und als Gast bekommt man vom organisatorischen Teil ziemlich wenig mit.

So profan sieht der organisatorische Teil dann tatsächlich aus.
Es folgten einige lange Abende mit der Familie vom Opi. Das waren richtig intensive Gespräche, ich musste ja jemanden kennenlernen ohne ihn kennenlernen zu können. Lustig war es (und das lag nur teilweise am Wein). Liebevoll. Und tränenreich.
Dann habe ich mich hingesetzt und angefangen, Skizzen aufs Papier zu werfen. Und das ist der Teil beim Schreiben, der so schwer zu erklären ist: Wie das eigentlich funktioniert. Keine Malerin kann Dir erklären, wie ihr Kunstwerk entstanden ist. Und kein Musiker, wie seine Symphonie.
Ich versuche, das so zu beschreiben: Es ist wie ein Summen und Sirren von vielen verschiedenen Tönen und Stimmen, das sich beim Nachdenken darüber um einen Faden herum sortiert. Eine Melodie, die sich über einen Grundton entwickelt. Ein Muster, das sich entfaltet und fortschreibt.
An den Tag der Beerdigung erinnere ich mich noch genau. Wie traurig alle waren. Meine Kugelfisch-Freundin weinend vorne am Pult, wie sie sich an mir festhielt, als sie ihren Abschiedsbrief vorgelesen hat. Die vielen Bilder und die schöne Musik.

Das Rednerpult in der Kapelle auf dem Westfriedhof in Magdeburg.
Als die Trauerfeier vorbei war, war ich wirklich richtig fertig – mental, aber auch körperlich. Es heißt nicht umsonst Trauer-Arbeit, denke ich.
Und dann kam eine andere Frau ins Spiel: Die Bestatterin. Und sagte, ihr habe das so gut gefallen. Weil es so anders und besonders war. Ob ich mir vorstellen könne, das öfter zu machen.
Und da habe ich an Lothar gedacht.
Lothar war der Nachbar meiner Eltern, ein sehr spezieller Mensch. Er hatte sich mit so ziemlich allen aus seinem Umfeld überworfen: Mit seinen Kindern, mit seinen Freunden, mit den Nachbarn. Nur mit meinem Vater nicht, aus welchen Gründen auch immer. Lothar stand regelmäßig mindestens dreimal pro Jahr mit seinen Koffern auf der Straße, weil seine Frau es nicht mehr mit ihm aushielt. Er war sowas wie der Ove aus Reform. (Wenn Ihr das Buch noch nicht gelesen habt, habt Ihr was verpasst! Lest das oder schaut Euch im Notfall den Film an.)
Als er starb, gingen meine Eltern zur Beisetzung, und als sie wiederkamen, fragte ich, wie es war.
Meine Mutter berichtete, es muss ziemlich schrecklich gewesen sein, und sprach am Ende diese Worte: "Der Redner, Katha, hat einen unfassbaren Haufen Schwachsinn erzählt. 'Lothar lebte in Friede und Eintracht mit den Menschen! Lothar lebte in Friede und Eintracht mit seiner Familie und seinen Nachbarn!!` Wirklich, Katha: Soviel Lüge hat kein Mensch verdient. Nicht mal Lothar.“
Dann haben wir eine Flasche Wein getrunken und herzlich gelacht. Seitdem heißt Lothar bei uns nicht mehr Lothar, sondern "Friede und Eintracht", übrigens.
Und mit diesem Wissen im Kopf und im Herzen dachte ich: Wenn ich das kann, und wenn das den Leuten hilft – dann ist das wohl meine Aufgabe.
Also sagte ich: Ja!
Seitdem habe ich viele, viele Abschiede begleitet. Oft waren es Menschen, deren Leben irgendwo weit im Osten begann, Geschichten von Krieg und Vertreibung, Familie und selbstgebackenem Kuchen.
Manchmal saßen Kinder in der ersten Reihe, weil eine junge Mutter ihre Krebserkrankung nicht besiegen konnte.
Und manchmal schaue ich in die Gesichter von Eltern, die ihr eigenes Kind beerdigen müssen.
Warum macht man das? Und wie hält man das aus?
Meine Antwort geht so:
Mein Name, Overmann, stammt aus dem Norddeutschen und ist eine Kombination aus "Ufer" und "Mann", steht also im weitesten Sinne für einen Fährmann (bzw. in meinem Fall für eine Fährfrau). Und darum geht es, das ist meine Aufgabe: Menschen zu begleiten bei ihrer Reise von einem an das andere Ufer.

Der Tod ist ein Horizont, und ein Horizont ist nichts anderes als die Grenze unseres Sehens.
Gestern lief ich im Sonnenschein zwischen den schiefen und verwitterten Grabsteinen der alten Gräber und den buntgetupften Blumenmeeren der ganz neuen entlang.
Manchmal ist es kaum zu ertragen, dass die Welt sich einfach weiterdreht, ohne Rücksicht auf Verluste.
Wenn ich nach Hause komme, nehme ich meine Kinder so fest in den Arm, dass wenigstens die kleine Hummelfee vor Empörung quiekt und versucht, mir mit ihren fünf Zähnchen in die Nase zu beißen.
Ich halte nichts von diesem ganzen Carpe-Diem-Gerede. Man kann nicht jeden Tag so leben, als sei es der Letzte. Täte man das, dann wäre man ein Fall für die Klapse.
Es gibt nicht die eine große, alles erklärende mega-Weisheit, die man aus der Erfahrung mit all diesen Abschieden destillieren kann.
Auf der Bucket-List von Anton standen ganz unaufgeregte Sachen: Sushi essen. In einem Whirlpool baden. Ein cooles Lego-Ding bauen.

Nicht nur das Leben ist eine ewige Baustelle.
Ihr müsst selber wissen, wir Ihr das händelt. Es ist ja Euer Leben. Aber im Zweifelsfall würde ich Euch raten, Euch heute Abend Sushi-essend in den Whirlpool zu legen, für den Anfang.
Passt auf Euch auf.
