Vergissmeinnicht, Sternenkind
Wann immer man sich an einem Platz wie diesem trifft, geht es um Abschiede.
Abschiede sind Augenblicke in unserem Leben, die wir zu meiden versuchen. Denn Abschiede tun weh, weil sie immer etwas mit Verlust zu tun haben. Und, das ist vielen Menschen nicht bewusst, es ist vollkommen egal, wieviel Zeit wir mit dem Menschen hatten, dem wir „Lebewohl“ sagen müssen. Abschied zu nehmen schmerzt. Immer.
Verlust bedeutet: Etwas fehlt. Bei einem sehr alten Menschen würde man sagen: Seine Weisheit fehlt. Sein Wissen fehlt. Seine Hand, federleicht und faltig auf meiner Schulter, fehlt.
Heute geht es um ein ganz junges Menschenkind. Was sagt man da? Man sagt: Du fehlst. Man sagt: Das gute Ende fehlt. Das gute Ende für jeden Wunsch, den wir für dich hatten; jede Hoffnung für Dich; jeden einzelnen Traum von Dir – alles ist zu Ende, viel zu früh, und ganz anders, als wir es uns gewünscht haben.
Ein Menschenleben beginnt ganz zart und klein. So war das auch bei Lisa.
Da ist erst eine Ahnung. Ein wenig später ein positiver Schwangerschaftstest. Dann ganz viel Still-halten, sich auf die Zunge beißen, Geheimnis bewahren. Und wenn es endlich soweit ist: Die frohe Nachricht – da ist ein Kind unterwegs! Was für ein Glück, ein Segen.
Lisa war ein ganz geplantes Wunschkind. Eine kleine Schwester für Lena! Was für eine Freude.
Ein kleines Mädchen wächst da heran. Man zählt die Schwangerschaftswochen, spürt die ersten Stupser und Tritte, man träumt und hofft und ist voller Vorfreude.
Die ersten Kisten mit eingelagerten Babysachen werden wieder hervorgeholt, das Bett wird aufgebaut und man schaut nach ob noch Luft auf den Reifen vom Kinderwagen ist.
Dass die Nabelschnurarterie singulär war, ach ja, eine Nebensächlichkeit, kein Grund, sich zu sorgen.
Mit dem Bauch wachsen die Sehnsüchte, die Hoffnungen und Träume.
Und dann sagt jemand, mittendrin: Cardiomegalie.
Nur dreizehn Buchstaben, und man versteht nichts, außer: Dass man Angst hat. Diese Angst, die ist riesengroß.
Aber da ist auch Hoffnung und, tatsächlich: Stärke.
Diese Stärke findet man in sich selbst, in seinem Partner, sie kommt auch von anderen Menschen, die da sind und da bleiben und stützen und begleiten: Familie und Freunde. Und noch ein paar andere.
Anders kann man diese riesengroße Angst nämlich auch nicht aushalten. Nur so – mit Hilfe der Herzensmenschen um einen herum – und mit dem Glauben daran, dass alles gut wird.
Cardiomegalie bedeutet: Großes Herz. Zu großes Herz.
Haben wir außer dem großen Herzen sonst noch ein Problem? fragt der Kardiologe, und man lacht und sagt: Nein! Sonst ist alles gut. Natürlich ist nicht alles gut, aber mit der Hilfe von Familie und Freunden und dem Glauben an das gute Ende schafft man einen Tag nach dem anderen.
Abends staunt man über den schiefen dicken Bauch, das Kind braucht Platz und sucht ihn sich.
Und dann kommt ein Tag, da geht man mit einem Lächeln im Herzen und im Bauch und voller Vorfreude zum Arzt, und der sagt:
Ich höre nichts. Da sind keine Töne. Das Herz, das zu große – es schlägt nicht mehr.
In so einem Moment zerbricht etwas in einem. Etwas geht kaputt, und man kann – muss – in Zeitlupe dabei zusehen. Wie bei einem Glas, das ganz, ganz langsam zu Boden fällt und in tausend Stücke zersplittert.
Ab da ist vieles still. Die Frage nach dem „Warum“ - Stille. Die Einleitung der Geburt, das Warten über zwei Tage – Stille. Im und um den Kreissaal herum – Stille.
Lena war nicht still, zum Glück: Mami, du nis Angst haben! Du ganz tapfer!
Mami war tapfer, so gut sie konnte. Zehn nach halb fünf blieb die Uhr im Kreissaal stehen.
57 Minuten dauerte die Geburt – mit der Unterstützung von ein bisschen Dextro Energy und Wasser – und dann war Lisa da.
Ein kleines Baby, so zart und zerbrechlich, und ihrer Schwester so ähnlich.
47 Zentimeter lang, ein bisschen mehr als 2 Kilogramm schwer war das kleine Mädchen – mit ganz langen Armen und Beinen, wie der Papa. Die brauchte sie auch, zum Schwimmen, bei dem ganzen Fruchtwasser. Die Grübchen hatte sie auch von ihm.
Kein Schrei. Kein Geräusch. Alles still.
Die Oma war da, und das war wichtig.
Die Uhr im Kreissaal fing wieder an zu ticken. Kann man irgendetwas Kluges sagen über so etwas? Gibt es etwas Tröstliches? Etwas, das hilft?
Kann man nicht. Gibt es nicht.
Man kann sagen: Die Natur hat die Sache in die Hand genommen.
Man kann sagen: Ein Kreislauf schließt sich.
Man kann sagen: „Warum“ ist keine Frage.
Man übt sich in Geduld, man erträgt die eigene Schwäche und das Schweigen der anderen.
Und das eigene. Weil es nichts zu sagen gibt.
Doch wenn Lisas kurzes Leben einen Sinn haben soll, dann doch wenigstens diesen: Dass das Schweigen ein Ende hat, und die Sprachlosigkeit auch. Die Stille, die Lisa und ihre Geburt umgibt, muss man aushalten und ertragen. Aber sie soll nicht zu Sprachlosigkeit werden. Wir wollen über Lisa sprechen, denn alles andere wird ihr nicht gerecht. Und anders wird die Angst nicht kleiner.
Lisas Eltern schenken Ihnen die Samen des Vergissmeinnicht. Der Name „Vergissmeinnicht“ geht aus einer alten Tradition hervor: Weil die blauen Blüten gemäß dem Volksglauben an die Augen frisch verliebter Menschen erinnern, verschenkte man Vergissmeinnichte gern als Liebes- und Treuebeweis. Legen Sie die Samen in die Erde. Sehen Sie, wie sie wachsen. Erfreuen Sie sich an den Blüten.
Lisas Augenfarbe bleibt ihr Geheimnis, für immer.
Aber wenn Sie die Blüten des Vergissmeinnichts anschauen, dessen Samen Sie jetzt in den Händen halten, dann wünsche ich Ihnen, dass es sich ein wenig anfühlt wie der Blick in Lisas Augen.
Wir stehen unter dem noch kleinen Spitzahorn, der Lisas letzte Ruhestätte werden soll. Drei Verästelungen weisen seinen Weg in den Himmel: Sie stehen für Mama, Papa und Lena. Noch ist der Ahorn ganz zart, aber er wird stärker werden und wachsen: So wie Lisa wachsen sollte. Der Opa hat Lisa – wo auch immer sie ist – fest in seine schützenden Arme genommen und passt auf sie auf. Wir nehmen Abschied von der kleinen Lisa mit dem großen Herzen.
