Walters Kinder
Ich lerne viele verschiedene Menschen kennen, das macht einen nicht unwesentlichen Teil meiner Faszination für meine Arbeit als Rednerin aus. Ich höre Lebensgeschichten, Liebesgeschichten, lasse mir berichten von Glück, vom Verlassenwerden, von plötzlichen Wendungen in Lebensläufen: Von allen Facetten, die die das Leben seine Mitspieler ungefragt wirft.
Jede dieser Geschichten bringt Saiten in mir zum Klingen und erzählt die immer gleichen Motive von Neugier, Liebe, Familie, Macht und Unabhängigkeit doch jedes Mal neu.
Sie gehen mir unter die Haut. Manchmal tiefer.
Eine dieser ganz besonderen Begegnungen hatte ich, als ich Walter kennenlernte.
Walter wurde in den frühen 30ern geboren, er war ein Junge von der Küste. Walter ist ein für seine Generation großer Mensch, schmal, als jungen Mann stelle ich ihn mir schlank und durchtrainiert, mit sonnengebräunter Haut und windzerzaustem sonnengebleichtem Haar vor.
Es ist nicht ganz einfach, sich mit Walter zu unterhalten, er hört nicht mehr sehr gut, und seine Aussprache ist ein wenig verwaschen von der wohl schlecht operierten Nasen-Gaumen-Spalte. Also erzählt er mir seine Geschichte in diesem typisch nasalem Tonfall, und es ist eine Liebesgeschichte. Es ist die Liebesgeschichte eines nun 80jährigen, der 62 Jahre mit seiner Frau verheiratet war.
Walter sitzt in seinem Sessel, ich bekomme wunderbar starken Kaffee aus einer Tasse, die mit großer Sicherheit zu einem „Service“ gehört (ein Wort, das ich kaum ohne den amerikanischen Zungenschlag denken kann) und er passt auf, dass ich ja einen von den Keksen nehme. Er selbst isst nicht mehr besonders viel, seit seine Frau das ihrer Krankheit wegen nicht mehr konnte. Das ist Wochen her; deswegen sieht er nun nicht mehr schlank, sondern ein wenig ausgemergelt aus.
Die Tasse steht auf einer Untertasse mit diesen Papierchen (deren Funktion ich nicht begreife: sie saugen Kaffeetropfen auf, bevor es die Untertasse tun muss?), die wiederum auf einem Tisch mit einer echten Tischdecke steht, hinter dem sich eine echte Schrankwand, Eiche brutal, auftürmt. Als Walter eine der Schubladen öffnet, um Zettel und Stift hervorzuholen, erkenne ich, dass sie von innen genau so aufgeräumt ist wie alles außen um sie herum. Sorgfalt spricht aus der Anordnung von Tassen und Gläsern und der faltenfreien Decke auf dem Tisch, und es ist eine Sorgfalt, die nichts kontrollierendes, sondern etwas Liebevolles hat.
Alles ist vorbereitet. Walter ist vorbereitet: Er hat die Dinge im Leben seiner Frau, die er wichtig findet, in der diesen Vorkriegsjahrgängen eigenen Schrift sorgfältig notiert, die nicht mehr Sütterlin ist und dennoch dieses eigentümlich gestochen scharfe, genaue hat.
Walter sitzt neben mir, ich habe den anderen guten Sessel bekommen. Im Vogelkäfig gewöhnen sich zwei Wellensittiche hackend und flügelschlagend aneinander, der Vorgänger des einen ist der Liebling seiner Frau gewesen. Er ist vor zwei Tagen gestorben.
Walters Frau hat Vögel geliebt, nicht nur die Bunten drinnen im Käfig, sondern gerade die Schwarzen und Grauen draußen am Rande der Stadt, auf dem Parkplatz vor dem Einkaufscenter, das Walter und sie regelmäßig zusammen besucht haben. Sie musste nur aus dem Auto steigen und mit der Tüte Vigelfutter rascheln, und schon waren sie in Schwärmen da. Walters Stimme klingt stolz, wenn er das erzählt.
Walters Frau hat alles Lebendige geliebt, gehegt und gepflegt. Aus einem welken Blumenstrauß suchte sie die letzten noch nicht ganz verblichenen Stängel heraus und setzte sie in eine Vase mit frischem Wasser. Sie fand es nicht richtig, sie vor ihrer Zeit aufzugeben.
Wer tut so etwas? Im Fall von Walters Frau: Ein Mensch, der um Vergänglichkeit und Verlust weiß.
Walters Sätze über seine Frau aus den frühen 30ern bestehen aus Bestandteilen wie „als uneheliches Kind geboren“ und „deshalb von den Großeltern angenommen“. Es sind Fragmente, die ich als sonderbar fremd in ihrer Logik empfinde, aber nachvollziehbar aus den Bedingungen ihrer Zeit.
„Sie wurde in den Zug mit Puppenwagen und Kiepe auf dem Rücken gesetzt, um von ihrer Tante in Empfang genommen zu werden.“ ist einer der Sätze aus den späten 30ern, der ein Ausmaß an Verlorenheit andeutet, dessen Konturen ich nicht fassen kann.
Sätze aus den 40ern setzen sich zusammen aus Wörtern wie „Kinderheim“, „Flucht“, „Wunsch“ und „richtiges zu Hause“. Aus allem spricht das Entsetzen, das sich dem Vokabular von Trauma und Therapie, das ich als Kind meiner Zeit fließend spreche, entziehen.
Die Sätze der nächsten Jahre handeln von Geburten, von Familie, von „zu Hause“. Vier Kinder, zwischen 54 und 61 geboren, sie sind hoffnungsvolle Satzanfänge, die sich zu neuen Lebensgeschichten zusammensetzen sollen.
Der Satz von 1967 lautet bei Wikipedia: „Bei dem Eisenbahnunfall von Langenweddingen am 6. Juli 1967 stieß auf der Bahnstrecke Magdeburg–Thale ein Zug der Deutschen Reichsbahn in der Nähe der bei Magdeburg gelegenen Ortschaft Langenweddingen an einem Bahnübergang mit einem Tanklastwagen zusammen, der explodierte. Mit 94 Todesopfern gilt dieses Unglück nach dem ICE-Unfall von Eschede als das zweitschwerste in der Nachkriegsgeschichte der deutschen Eisenbahn und als einer der folgenschwersten Gefahrgutunfälle in der deutschen Geschichte.“ Es ist ein Satz voller Sachlichkeit und wahrscheinlich falschen Zahlen, noch so viele Jahre später.
Für Walter und seine Frau heißt dieser Satz, übersetzt in ihr Leben: Zwei Söhne tot. Die Tochter mit schweren Verbrennungen im Krankenhaus.
Walters Tochter sitzt neben uns auf dem Sofa. Ich finde sie schön in ihrer Stärke, in ihrer aufrechten Haltung. Sie ist Krankenschwester – das erklärt den Kaffee, unter anderem. Sie hilft Walter, aber sie bevormundet ihn nicht.
Sie sagt: „Mich hat nie niemand gefragt, wie ich mit meinen Narben zurecht komme.“ Sie nestelt an ihren langen Ärmeln, während sie das sagt.
Ist es manchmal doch zu spät für eine glückliche Kindheit? Und wer trägt die Verantwortung für eine Kindheit in solchen Situationen?
Der älteste Sohn hat Walters Frau zum Geburtstag oder Muttertag, niemand weiß das mehr so genau, eine Kaktee geschenkt. Die Kaktee gibt es Jahrzehnte später, dank der Fürsorge von Walters Frau, immer noch, die Pflanze hat mittlerweile viele Abkömmlinge. Sie stehen alle auf einem kleinen Schränkchen unter den Fotos der beiden Jungs, Portraits in Schwarzweiß, beim Jüngeren das Leibchen grellrot koloriert. Es ist ein Schrein in dem Zimmer, das einmal ein Kinderzimmer war, und in dem Walters Frau zuletzt sterben durfte. Sie wollte zu Hause sein, Walter hat ihr das erkämpft, darauf ist er stolz.
Um die Bilderrahmen ist eine Lichterkette gewunden, daran ein Stern. Walters Frau hat ihn jeden Abend eingeschaltet.
Die anderen kleinformatigen Fotos mit den scharfzackigen Rändern an der Wand zeigen Walter und seine Frau in flatternden cremefarbenen Trenchcoats mit tiefliegendem Kinderwagen vor Ausflugszielen.
Die beiden großen Jungs sind in einem Ehrengrab auf einem Magdeburger Friedhof begraben, das für die Opfer der Zugkatastrophe errichtet wurde. Walters Frau wird hier, bei den beiden, beigesetzt werden. Die beiden anderen, Schwester und Bruder, werden dabei sein. Sie sind glücklich verheiratet, Walter hat vier Enkel und vier Urenkel. Walters Frau hat ihre beiden toten Söhne regelmäßig besucht, ihnen frische Blumen auf das Grab gelegt. Jedes Mal sagte sie nach einer Zeit zu Walter: „Und jetzt lass mich allein, ich will mich verabschieden“.
„Dann hat sie geweint“, sagt Walter.
Walter sagt: Nun ist nichts mehr wie zuvor.